17. Oktober 2022 Thema: Allgemein, Blog Von Kai Koeser
Einmischen. Anpacken. Mitreden. Das zieht sich durch mein Leben wie ein roter Faden. Inzwischen nimmt dieses Engagement einen Großteil meines Lebens ein. Ich bin in der sehr privilegierten Situation, dass ich mein Hobby quasi zum Beruf machen konnte. Irgendwie. Dafür bin ich sehr dankbar. Dieser Einsatz für die Gesellschaft kam nicht plötzlich, über Nacht oder war eine bewusste Entscheidung. Ich habe nicht schon in der Schulzeit entschieden, dass ich mal in die Politik gehen will. Vielmehr hat es sich so ergeben, dass ich nach einer ganz normalen Ausbildung und Berufstätigkeit in dieses bürgerschaftliche Engagement hineingewachsen bin. Diese Entwicklung hat sicherlich ganz viel mit mir zu tun, was ich erlebt habt und welche Entscheidungen ich getroffen habe und treffen musste. Ich habe irgendwann entschieden, dass ich lieber entscheiden will, als von den Entscheidungen anderer abhängig zu sein.
Aufgewachsen bin ich in der Stader Ortschaft Bützfleth. Das ist vielleicht nicht die Perle unter den norddeutschen Dörfern, aber für mich war der beste Kindheitsort. Bützfleth war damals beides: Dorf geprägt von Landwirtschaft, Elbe und der Weite des Moores einerseits und dem Industriegebiet und der sogenannten VAW-Siedlung mit einem hohen Migrationsanteil andererseits. Klein Istanbul wurden wir damals genannt. „Da kommen die Türken“, hieß es im Schulbus. Bützfleth ist Stade und doch immer Teil von Kehdingen. Das steckt auch in mir. Mein Vater ist bis heute stolzer Kehdinger. Bützfleth und Heimat, das ist für mich auch der Bützflether Schützenverein. In der Schützenhalle „Klein Helgoland“ war ich zum Vogelstechen und habe fürs Krippenspiel geprobt. Im Schießstand habe ich von meinem Stiefgroßvater das Schießen gelernt. Da steckt ganz viel Heimat drin, denn Dorfkind bleibt man. Nach der Trennung meiner Eltern hat es mich dann nach Stade verschlagen, wo ich in der großen Familie meiner Mutter weiter aufgewachsen bin. Das Leben in einer Großfamilie hat mich bis heute geprägt und ist auch ein Stück Identität. Andere haben Freunde, ich habe Verwandtschaft – aber Freunde habe ich natürlich auch. Ich habe in Stade und anderswo auf der Welt neue Wurzeln geschlagen, doch der Verlust der Bützflether Wurzeln schmerzt bis heute.
Nach Abitur und Zivildienst in der Uniklinik Hamburg-Eppendorf habe ich einen anständigen Beruf erlernt, sogar zwei: im Hamburger Hotel Vier Jahreszeiten habe ich eine Ausbildung zum Restaurant- und Hotelfachmann gemacht. Mein erklärtes Ziel war damals, so schnell wie möglich ins Ausland zu gehen. Das habe ich dann auch gemacht. Mehrere Jahre habe ich in London und San Francisco gelebt und gearbeitet. Ich habe Karriere gemacht und dabei eine Menge über meine Mitmenschen gelernt. Besonders geprägt hat mich meine Zeit in London, denn dort hatte ich einen Arbeitgeber, der mich für alle Arbeitgeber verdorben hat. Sein Credo war, dass unser Haus mehr ist als eines der besten Hotels der Welt und ein Ort des Luxus. Wir wollten der beste Arbeitsplatz sein, wo Menschen ihr Potential entfalten können und als Unternehmen Verantwortung für die Umwelt und unsere Gesellschaft übernehmen. Als meine Zeit in London zum Ende kann, stand ich damit vor einem Dilemma. Einfach nur in einem anderen Hotel zu arbeiten, das war mir zu wenig geworden. Ich wollte mir diesen Mehrwert erhalten. Darum stieg ich ins Hamburger Café Gnosa ein. Dieses Traditionscafé ist seit Mitte der 80er Jahre eines der bekanntesten Schwulencafés des Landes. Hier gibt es nicht nur die besten hausgemachten Torten Hamburgs, das Café Gnosa ist auch gesellschaftliches Statement: ein Ort der Vielfalt, ein schwuler Ort, ein lesbischer Ort, wo das Private zum Politischen wird. Mit 19 habe ich im Café Gnosa den Mut für mein Coming-Out gefunden. Knapp zehn Jahre später fing dort ein neuer Lebensabschnitt an, der sich ganz anders entwickelte als geplant.
Arbeiten im Gnosa war immer auch Aktivismus: für Homorechte, für HIV- & AIDS-Prävention, gegen Diskriminierung und für Akzeptanz. Kaffee, Kuchen und Selbstverständlichkeit waren ein politisches Statement. Wir haben Spenden gesammelt, demonstriert und Flagge gezeigt – wenn nötig auch mal im Fummel. Nach einer Krankheit habe ich dann mit Anfang 30 nochmal neu gestartet und diesen Aktivismus zum Vollzeit-Beruf gemacht. Mit einer Fortbildung im „Sozialmanagement“ im Gepäck ging ich zu einer großen Kinderhilfsorganisation. Dort kam ich das erste Mal intensiver mit Entwicklungszusammenarbeit und Kinderrechten in Kontakt. Damals ahnte ich noch nicht, wie wichtig dieses Thema einmal für mich werden sollte. Nach der Elternzeit für meine beiden Töchter wechselte ich dann zur Hamburger Aidshilfe und leitet dort das Fundraising, also die Spendenabteilung. Zu dieser Arbeit gehörten auch enge Kontakte zur Politik und anderen gesellschaftlichen Netzwerken. Für mich war dann irgendwann der Schritt von der politischen Arbeit in die Politik die logische Konsequenz: ich wollte mitentscheiden.
Als Kind aus einer Großfamilie war Familie für mich immer ein Thema. Das hat mich geprägt. Die Entscheidung, nach Stade zurückzukehren hat ganz viel mit meiner Familie zu tun. Für meinen Mann und mich war es auch immer klar, dass wir eine Familie mit Kindern wollten. Das mussten nicht zwingend leibliche, aber sollten doch eigene sein. Die gesetzliche Realität und die Kaltschnäuzigkeit der Adoptionsstelle haben diesen Traum sehr schnell platzen lassen. So wurden wir quasi gezwungenermaßen Pflegeeltern. Ohne Zweifel war das bisher eine der besten Entscheidungen meines Lebens – vielleicht von der Wahl meines Partners abgesehen, denn ohne den wäre nichts so gekommen. Heute sind wir als „Zwei Papas mit zwei Kindern“ eine ganz normale Familie. Doch als Pflegefamilie ist man immer auch mehr. Strenggenommen erfüllen wir mit der Erziehung unserer Töchter eine ehrenamtliche Aufgabe im Auftrag des Jugendamtes. Für einen unbezahlten 24 Stunden-7 Tage die Woche-365 Tage im Jahr-Job mit all dem Freud und Leid des Elternseins ist das eine ziemlich absurde Beschreibung unseres Alltags, denn ein Vollzeitjob ist in der Lebenslage eigentlich undenkbar. Unsere Pflegekinder sind heute unsere Kinder. Wir sind ihre Eltern. Wir werden gut unterstützt vom Jugendamt. Aber trotzdem erfahren wir und vor allem unsere Kinder immer und immer wieder auch die Unzulänglichkeiten des Jugendhilfesystems. Dieses wird immer noch von der Position der leiblichen Eltern her gedacht, die Interessen, die Rechte und das Wohl der Kinder müssen immer wieder zurückstehen. So ist aus einem „Ehrenamt“ eine Art Lebensaufgabe geworden und 2021 eine Bundestagskandidatur.
Sich einsetzen für andere, für die Allgemeinheit. Das ist mir wichtig. Aber wo kommt das her? Das Fundament meiner Lebensentscheidungen ist sicherlich mein Glaube. In einer Phase der Orientierungslosigkeit habe ich meinen Glauben gefunden und mich mit 17 Jahren taufen lassen. „Selbstbewusst – aus Glauben – bildungshungrig und angesteckt mit Freiheit“ (Wolf-Dieter Steinmann), so würde ich mein ganz persönliches Selbstverständnis beschreiben. Für mich war es dann die logische Konsequenz, Sozialdemokrat zu werden, als ich eine politische Heimat suchte. Das war in einer Zeit als die SPD nicht gerade zu den Gewinnertypen zählte. Doch die tiefe Überzeugung der Sozialdemokratie, dass eine gerechte Welt möglich und nötig ist, das trieb mich immer schon an, das bestimmt bis heute meine politische Arbeit. Und wenn man die Welt verbessern will, dann fängt man am besten vor der eigenen Haustür an. Darum mache ich unglaublich gern Kommunalpolitik. Die ist zwar manchmal unglaublich langsam und mühsam. Aber man sieht die Ergebnisse der politischen Arbeit viel unmittelbarer und kann sich im Schützenzelt auch gleich die Prügel für die getroffenen Entscheidungen abholen. Das gehört auch dazu.
Ich lebe kein Leben für die anderen. Das tut nicht gut. Aber ich lebe inzwischen ein Leben voller Gemeinsinn. Ich glaube, dass wir besser leben können, wenn die Welt um uns herum eine bessere und gerechtere ist. Ich kann dann besser und in Frieden leben. Meine Kinder können besser aufwachsen und ihre Lebenschancen nutzen. Wir leben besser mit unseren Mitmenschen, wenn nicht jeder nur an sich denkt. Gleiche Chancen und Respekt vor dem Einzelnen kommt nicht von alleine. Das müssen wir uns immer wieder hart erarbeiten, manchmal auch erstreiten. Ich musste für vieles kämpfen und ich möchte nicht, dass andere die gleichen Kämpfe immer wieder und wieder austragen müssen. Mir geht es besser, wenn an alle gedacht wird. Aber das passiert nicht von allein. Darum heißt es für mich: Loslegen mit Einmischen!
Das Leben ist nicht immer gerecht. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, das erlebe ich aber auch tagtäglich als Pflegevater. Darum mache ich Politik, weil die Welt nur besser wird, wenn wir sie besser machen.