19. Januar 2021 Thema: Blog Von Kai Koeser
„Meine Herren und Damen!“ (Heiterkeit.) „Es ist das erste Mal, dass eine Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf…”. So begann Marie Juchacz die erste Rede einer gewählten Abgeordneten vor einem deutschen Parlament. Heute vor genau 102 Jahren durften Frauen in Deutschland das erste Mal an die Wahlurne treten.
Die Wahl zur verfassungsgebenden Versammlung war die erste, an der Frauen als Wählerinnen und Gewählte teilnehmen durften. Über 80 Prozent der wahlberechtigten Frauen nahmen ihr Wahlrecht wahr. 300 Frauen kandidierten, 37 zogen in die Nationalversammlung ein. Insgesamt hatte die Nationalversammlung 423 Abgeordnete. Eingeführt wurde das Frauenwahlrecht vom Rat der Volksbeauftragten 1918. Vorbereitet und massiv gefordert hatte es aber Jahrzehnte zuvor die Frauenbewegung. Die Auseinandersetzung um das Frauenwahlrecht hatte bereits in den 1840er Jahren begonnen. Und im Grunde ist sie noch lange nicht beendet, sonst müssten wir im Jahr 2021 nicht über Parité und Quotierungen diskutieren.
Laut Artikel 3 des Grundgesetzes sind Frauen und Männer gleichberechtigt. Aber wie sieht es in der Praxis aus? Natürlich ist vieles besser geworden seit 1919. Zwischen der “gefühlten Gleichberechtigung” und den Rahmenbedingungen mit denen sich Frauen in Gesellschaft, Arbeitsmarkt und auch Politik konfrontiert sehen liegen oft Welten. Am deutlichsten zeigt sich dies in der Positions- und Entgeltungleichheit. Frauen verdienen in Deutschland immer noch über 20 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Ein Grund dafür liegt in den häufigeren Unterbrechungen ihrer beruflichen Laufbahn aufgrund von Erziehungszeiten.
Frauen werden zu oft schlechter bezahlt. Ganze Berufszweige mit hohem Frauenanteil werden zu gering entlohnt, wie z.B. die Pflege- und Erziehungsberufe, viele Tätigkeiten in der Dienstleistung. Frauen sind in leitenden Positionen unterrepräsentiert. Sie übernehmen überdurchschnittlich häufig unbezahlte Sorgetätigkeit für Kinder und pflegebedürftige Angehörige – nicht nur in Zeiten von Corona. Sie arbeiten oft in Teilzeit und haben Unterbrechungen in der Erwerbstätigkeit mit fatalen Folgen für ihre Altersvorsorge. Im Schnitt haben Frauen nur halb so viel Rente wie Männer. Auch in der aktuellen Krise sind es Umfragen zufolge vor allem die Frauen, die ihre Arbeitszeit reduzieren, um sich um Betreuung und Home-Schooling zu kümmern.
Echte Gleichstellung ist eine Frage der Gerechtigkeit. Gleichstellung unterstützt das Leben mit Kindern. Frauen und Männer müssen in der Lage sein, Beruf- und Familienleben, Erziehung oder Pflege Angehöriger miteinander in Einklang zu bringen. Gleichstellung ist auch eine Frage unterschiedlicher Lebensmodelle. Die Gesellschaft wird vielfältiger. Es gibt Familienernährerrinnen und Hausmänner, Patchworkfamilien, politisch engagierte Frauen und Männer, die die eigenen Eltern gerne selber pflegen möchten. Diese Vielfalt der Lebensmodelle braucht eine Politik, die nicht nur das Modell des männlichen Familienernährers vor Augen hat. Sie braucht eine Politik, die den Bedürfnissen moderner Familien Rechnung trägt.
Natürlich geht es voran mit der Gleichberechtigung – aber leider zu langsam. Echte Gleichberechtigung bleibt eine politische Herausforderung solange die Chancen von Frauen und Männern ungleich verteilt sind. Es ist viel passiert seit die Rede von Marie Juchacz “Heiterkeit” auslöste, aber am Ziel sind wir erst wenn Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen des Lebens die gleichen Chancen wie Männer haben. Das ist übrigens gut für Frauen, Männer und Kinder.
Das Leben ist nicht immer gerecht. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, das erlebe ich aber auch tagtäglich als Pflegevater. Darum mache ich Politik, weil die Welt nur besser wird, wenn wir sie besser machen.