19. Februar 2021 Thema: Blog Von Kai Koeser
Ich saß in einer Gremiensitzung der Landessynode, als die Nachricht von den rassistischen Morden in Hanau bekannt wurde. Die meisten von uns hatten im Tagungsstreß noch keine Nachrichten gelesen. Das Entsetzen lähmte uns alle. Am Freitag kam vor der Marktkirche in Hannover dann die Stadtgesellschaft zusammen und gedachte der Toten und protestierte. Man stand zusammen. Das gab uns allen Mut. Und wieder hörte man den bekannten Satz, dies sei ein Angriff auf uns alle gewesen. Doch das stimmt nicht.
Der Täter von Hanau griff gezielt Menschen mit dunklen Haaren an, die anders aussehen, anders zu sein scheinen. Seine Morde reihen sich damit in eine Kette rassistisch motivierter Verbrechen ein. Die Bedrohung gilt nicht uns allen. Sie gilt nur bestimmten Menschen. Ihnen muss unsere Solidarität gehören. Wie fühlt es sich an, dass da draußen Menschen rumlaufen, die mich so sehr hassen, dass sie meinen Tod wünschen? Wenige können das nachvollziehen. Ich kenne das Gefühl. Es lässt einen nie los. Darum bedroht jede Form von Rassismus oder gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit den Kern unserer freien Gesellschaft. Dabei fängt dieser Angriff nicht mit Morden an. Er beginnt in den sozialen Netzwerken, am Stammtisch und inzwischen leider auch wieder in unseren Parlamenten.
Für viele Menschen ist Alltagsrassismus genau das: Alltag. Die Frage nach der Herkunft, abwertende Blicke, rassistische Rufe im Stadion, die Zurückweisung an der Clubtür, nachteilige Behandlung am Arbeitsplatz oder bei der Bewerbung, Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche oder Kreditvergabe, aber auch vermeintliche Komplimente. Manchmal beginnt es mit dem “Übersehen” derer, die die Mehrheit für anders hält. So werden Mitbürger:innen zu geduldeten Gästen degradiert. Ein besonders großes Gefühl der Machtlosigkeit müssen Betroffene bei einer Diskriminierung durch den Staat empfinden. Hier geht Vertrauen verloren. Darum ist insbesondere bei der Polizei ein offensiver Umgang mit Rassismusvorwürfen wichtig. Dabei darf die Polizei nicht grundsätzlich verdächtigt werden, aber in Deutschland muss jede:r der Polizei vorbehaltlos vertrauen können.
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Natürlich erwarten die “Einheimischen” von den “Neuen”, sich anzupassen. Ich habe selber viele Jahre im Ausland gelebt und kenne die Rolle des Fremden. Doch das Integrationsverständnis hat sich gewandelt. Neben der Bringschuld der Zuwandernden wird heute auch erwartet, dass diese eine aufnahmebereite Gesellschaft vorfinden. Da habe ich selber auch beides erlebt. Es macht einen gewaltigen Unterschied. Die Integration wird nachhaltig gestört, wenn es immer wieder zu Benachteiligungen kommt: im Bildungssystem, im Arbeitsleben oder gar im Kontakt mit dem Staat. Unsere Gesellschaft muss ein großes Interesse an einer funktionierenden Integration haben. Damit diese gelingt, müssen wir aktiv gegen Diskriminierung vorgehen.
Strukturellen Rassismus muss der Gesetzgeber bekämpfen. Der Staat muss den Schutz von Minderheiten gewährleisten. Politik muss strukturelle Probleme aufdecken und konsequent in Bildung und Aufklärung investieren. Außerdem müssen wir endlich die Globalisierung human gestalten, damit es nicht weltweit so viele Verlierer:innen gibt. Doch rechtfertigt die Angst vor wirtschaftlicher Not niemals gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit. Vor allem müssen wir als gesamte Gesellschaft aktiv werden. Die Integration muss dynamischer werden, von beiden Seiten. Es braucht mehr Begegnungen und ein aktives Miteinander in der Gesellschaft. Denn wenn wir einander durch Begegnung und gemeinsames Erleben im Verein, im Schulaustausch, in der Nachbarschaftshilfe kennengelernt haben, werden aus Fremden Nachbarn. Ich bin so dankbar, mein ganzes Berufsleben mit Menschen aus unterschiedlichsten Nationen in verschiedenen Sprachen zusammengearbeitet zu haben. Ich möchte keine dieser Erfahrungen missen. In der Vielfalt liegt Stärke. Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alle diese Stärke sehen.
Das Leben ist nicht immer gerecht. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, das erlebe ich aber auch tagtäglich als Pflegevater. Darum mache ich Politik, weil die Welt nur besser wird, wenn wir sie besser machen.