26. Januar 2021 Thema: Blog Von Kai Koeser
Ein Land stellt sich seiner Geschichte. Der Holocaust ist Teil deutscher Vergangenheit und unserer Gegenwart. Immer wieder werden wir mit ihm konfrontiert. Und doch ist er immer weniger greifbar. Überlebende und Zeitzeugen werden weniger. Darum ist es so wichtig am heutigen Tag innezuhalten.
Wir sind mit dem Wissen um die Nazi-Verbrechen aufgewachsen. Wir kennen die Bilder von den Aufmärschen. Wir kennen die Bilder von den Leichenbergen. Wir glauben, das sei alles Geschichte, das könne nie wieder passieren. Aber 6 Millionen Tote fingen nicht mit dem Bau der Lager an. Der Grundstein für Holocaust und Weltkrieg wurde gelegt mit Dolchstoßlegende und “Wer hat uns verraten…?” Der Grundstein ist das “wir gegen die” gewesen. Und dieser Geist geht wieder um, wenn unsere Gesellschaft sich in Gutmenschen und Nazis aufteilt, in Querdenker und Schlafschafe. Dieser Geist geht wieder um, wenn Menschen mit berechtigten Ängsten und Sorgen neben gewaltbereiten Rechtsradikalen demonstrieren. Dieser Geist geht wieder um, wenn rechte Hetzer in den Bundestag eingeschleust werden, wenn “selbsternannte Patrioten” den amerikanischen Kongress stürmen. An manchen Tagen habe ich Angst, dass wir die Anfänge längst verschlafen haben.
Es wäre naiv und gefährlich zu glauben, dass sich Geschichte nicht wiederholen könnte. Systeme können sich ändern. Demokratie ist zerbrechlich. Auch unsere. Es beginnt mit ersten Rissen und irgendwann ist es dann zu spät. Das muss auch uns bewusst sein, die seit 75 Jahren in Frieden leben. Auch in Europa hat es nach 1945 Kriege gegeben. Bis heute sind Völkermorde traurige Realität: auf dem Balkan, in Ruanda, an den Jesiden. Wie können wir da sicher sein, dass sich Geschichte bei uns nicht wiederholen kann?
Deutschland hat seine faschistische Vergangenheit aufgearbeitet – oder ist wenigstens dabei. Trotzdem müssen Synagogen und sogar jüdische Schulen bewacht werden. Antisemitische und fremdenfeindliche Straftaten nehmen zu. Rechte im Parlament wettern gegen eine “historische Schuld” der Deutschen. Sie haben nichts begriffen. Sie wollen nicht begreifen. Oder sie haben begriffen und verspritzen dennoch ihr Gift. Die Nachkriegsgenerationen tragen keine Schuld an den Verbrechen der Nazis. Aber wir alle tragen gemeinsam dafür Verantwortung, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Wir dürfen vor der Vergangenheit nicht die Augen schließen. Wir müssen uns der Gefahren für unsere Demokratie und unsere freie Gesellschaft immer bewusst sein. “Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch” (B. Brecht).
Es gibt kaum noch Zeitzeugen für die mörderischen Verbrechen der Nationalsozialisten. Schon bald werden die Stimmen der Überlebenden nur noch von Aufnahmen oder aus Büchern und Briefen zu uns sprechen können. Dieses dunkle Kapitel unserer Geschichte wird dann immer weniger greifbar. Hier sind wir alle in der Verantwortung, für die Welt und vor der Welt und vor unserer Geschichte. Wir dürfen die Stimmen der ermordeten Kinder, Frauen und Männer nicht verklingen lassen. Ihre Stimmen sind Teil unserer Identität als Deutsche. Sie rufen zu uns: “Nie wieder Auschwitz!” Das ist unsere Verantwortung vor der Geschichte.
Das Leben ist nicht immer gerecht. Das weiß ich aus eigener Erfahrung, das erlebe ich aber auch tagtäglich als Pflegevater. Darum mache ich Politik, weil die Welt nur besser wird, wenn wir sie besser machen.